Dr. Arthur Oscar Bial

Ölmühlweg 12

Arthur Oscar Bial wurde am 21. August 1877 in Striegau/Schlesien geboren. Der Sohn des jüdischen Arztes Malwin Bial und dessen Frau Selma, geb. Siegheim, studierte Jura in München und Medizin in Halle-Wittenberg und Würzburg. Er wurde im Jahr 1903 zum Arztberuf zugelassen und promovierte.

In Hermannsdorf heiratete er 1905 Ellinor Katz (geb. 1882) aus Kattowitz/Oberschlesien. Von Mai 1905 bis September 1937 lebte und arbeitete Arthur Bial als Badearzt in Bad Elster im Vogtland. 1908 kaufte Bial ein Haus, ließ es umbauen und führte es als Kurpension „Villa Elli“. Bis 1921 arbeitete er aber wahrscheinlich im Sanatorium des Sanitätsrats Dr. Köhler, danach möglicherweise im eigenen Haus. 1911 kam Sohn Hans Walter in Bad Elster zur Welt.

1914 wurde er als Arzt zum Kriegsdienst nach Frankreich eingezogen. Er erhielt noch im selben Jahr das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Im Jahr 1934 wurde ihm auch das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen. Arthur Bial arbeitete in Bad Elster insgesamt 32 Jahre als Badearzt. Die gut gehende Praxis erlitt aber erste Einbußen ab April 1933, als nicht-jüdische Kurgäste nicht mehr behandelt werden durften. Ab August 1937 wurden den jüdischen Kurgästen die Kurmittel entzogen, so dass auch sie als Patienten entfielen.

Sein Haus hatte er bereits 1936 an einen Kollegen veräußert. Für kurze Zeit zog Dr. Bial nach Breslau. Inzwischen verwitwet, siedelte er am 15. März 1938 nach Königstein über und trat eine neue Stelle im Sanatorium Kohnstamm an. Im Ölmühlweg 12 wohnte und arbeitete er. Auch hier holte ihn das Zeitgeschehen bald ein. Am 30. September 1938 wurde über die jüdischen Ärzte ein Berufsverbot verhängt. Im Brief der Reichsärztekammer hieß es: „Um etwaige Zweifel zu beheben und Ihnen Unannehmlichkeiten zu ersparen, weisen wir Sie darauf hin, dass Ihnen von diesem Termin ab jede ärztliche Betätigung untersagt ist und dass Ihr bisheriges Arztschild unverzüglich zu entfernen ist.“ Ab Oktober hielt sich Dr. Bial bei seinem Sanatoriums-Kollegen Dr. Friedemann in der Altkönigstraße 14 auf.

Arthur Bial war einer von 40.000 Juden, die nach den Novemberpogromen ein Visum zur Einreise in die Niederlande beantragten. 7.000 Juden ließ die holländische Regierung ins Land. Die Flüchtlinge sollten nicht integriert werden, mussten in Lagern leben und hatten keine Bewegungsfreiheit; die jüdische Gemeinschaft musste sich um deren Versorgung kümmern. Am 28. Dezember 1938 erreichte ihn die Entscheidung des niederländischen Justizministeriums, binnen acht Wochen dort einreisen zu können. Ab Februar 1939 lebte Arthur Bial in den jüdischen Flüchtlingslagern Heijplaat bei Rotterdam, (das ehemals eine Quarantäne-Einrichtung für Seeleute war), und Zeeburgerdijk im Osten von Amsterdam. Die Quartiere mussten die Flüchtlinge selbst bezahlen.

Dr. Bial bekam in Aussicht gestellt, dass er, sofern er für seinen Unterhalt selbst aufkommen könne oder er einen Bürgen fände , außerhalb der Lager leben könne. Er fand Unterstützung in Joh. Nagel, bei dessen Familie in Zandvoort er ab Juli 1939 vorübergehend lebte. Im März 1940 wurde Arthur Bial im neu eingerichteten Zentralen Jüdischen Flüchtlingslager Westerbork aufgenommen und übernahm dort wenige Tage nach Ankunft die Leitung der Poliklinik. Somit war er unabhängig von der Unterstützung Dritter.

Im Mai marschierte die Deutsche Wehrmacht in die Niederlande ein. In Westerbork wurden alle geflohenen jüdischen Deutschen und Österreicher inhaftiert. Ab dem 1. Juli 1942 wurde das Lager zum Polizeilichen Judendurchgangslager „Kamp Westerbork“ unter direkter deutscher Verwaltung und damit faktisch zum KZ. Am 14. Juli begannen die Transporte aus den gesamten Niederlanden ins Durchgangslager. Es kamen Juden, Sinti, Roma und Widerstandskämpfer. Zwischen 1942 und 1944 wurden von dort etwa 102.000 Menschen nach Auschwitz, Sobibor, Bergen-Belsen und Theresienstadt deportiert. Der Oberdienstleiter des jüdischen Ordnungsdienstes schützte die deutsch-jüdischen Häftlingsmitarbeiter vor der Deportation und setzte vorrangig niederländisch-jüdische Insassen auf die Deportationslisten. So gelang es Arthur Bial bis zur Befreiung in Westerbork zu arbeiten.

Kanadische Soldaten befreiten am 12. April 1945 schließlich noch 900 jüdische Häftlinge aus dem Lager. Nur zehn Tage nach der Befreiung trat Bial eine Stelle im Britischen Militärkrankenhaus Huntlosen bei Oldenburg an. Dort arbeitete der 68-Jährige als Stationsarzt für Innere Medizin und TBC. In seinem Pass für angestellte Zivilisten der britischen Streitkräfte ließ er sich als staatenlos eintragen. Er beendete sein Arbeitsverhältnis an Weihnachten, um in die Niederlande zurück zu kehren. Sein Zeugnis fiel sehr anerkennend aus, sein ärztliches Wissen und sein Umgang mit den Patienten wurden hervorgehoben.

Am 21. März 1954 starb Dr. Bial in Amsterdam.

Text: Barbara Kramer

Familie Cahn

Hauptstraße 24

Die von Seligman Löb Cahn (1818-1880) und Rosa, geb. Stern (1820-1902) abstammenden Mitglieder der Familie Cahn gehörten zu den langjährigen Bewohnern der hinteren Hauptstraße (früher Langgasse) im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Seligmann Löb und Rosa Cahn hatten drei Töchter und drei Söhne: Die Tochter Henriette, verheiratete Grünebaum, starb 1913. Elise, geb.1862, war in Wiesbaden mit dem Viehhändler Moritz Heymann verheiratet. Sie wurde 1942 von Frankfurt ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und später für tot erklärt. Johanna, geb. 1856, verheiratete Oppenheim, lebte in Marburg. Sie wurde am 7.9.1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 18.9.1942.

Über den Sohn Alexander ist weiter nichts bekannt. Die Söhne Maier (geb. 30.1.1851) und Hermann (geb. 23.9.1852) gründeten Familien und lebten in der Hauptstraße in den Häusern 24 und 32. Die Familie Cahn pflegte ein gutes Verhältnis zu ihrer Nachbarschaft. Im 1. Weltkrieg schrieb Hermann Cahn 1914 Weihnachtsgrüße an den christlichen Nachbarn Gustav Hedwig, der sich zu dieser Zeit „im Felde“ befand. Auch zum Geburtstag im Februar 1915 erhielt Gustav Hedwig ein Paket, das Wurst, Butter und Zigarren beinhaltete mit den „besten Wünsche“ an die Front von Hermann Cahn und Frau. Hermann Cahn engagierte sich als Stadtrat und war Mitbegründer der Königsteiner Feuerwehr.

Hermann Cahn und seine Frau Helene Rosenthal (geb. 1864 in Klein-Krotzenburg) hatten drei Kinder: Mathilde, Albert und Hilda. Über die 1884 geborene Mathilde gibt es keine weiteren Informationen. Der Sohn Albert, geboren am 17. Februar 1888, war im 1. Weltkrieg Soldat. Nachbarin Elise Hedwig schrieb im April 1915 an ihren Mann Gustav, der als Soldat in Frankreich war, dass Albert Cahn in Russland einen Schenkelschuss erlitten habe und in Gefangenschaft geraten sei. Anfang September 1915 meldete Elise Hedwig: „Cahn Albert hat hier die Woche aus Sibirien geschrieben, nach so langer Zeit.“

Wann Albert Cahn aus dem Krieg zurückkehrte ist unklar. Wegen seiner Kriegsverletzung erhielt er bis 1942 eine Kriegsbeschädigtenrente. Die Verletzung bewahrte ihn im November 1938 davor, wie die anderen jüdischen Männer aus Königstein nach Buchenwald in sogenannte Schutzhaft genommen zu werden.

1940 wickelte Albert Cahn seinen Lederwarenhandel zwangsweise ab. Die damit verbundenen Einnahmen mussten von den Handelspartnern auf ein Sicherungskonto eingezahlt werden, über das Albert Cahn nicht frei verfügen durfte. In einem Schreiben des Oberfinanzpräsidenten in Kassel an Albert Cahn, Hauptstraße 24, wurde ihm allerdings ein monatlicher Betrag von 300 RM zugestanden.

Hermann und Helene Cahns Tochter Hilda, geboren am 1. April 1894, wurde nach dem Besuch des „Taunus-Instituts“ (Höhere Mädchenschule) Krankenschwester. Bei Kriegsausbruch 1914 arbeitete sie als Hilfsschwester in einer Wiesbadener Augenheilanstalt. Sie erhielt nach einem Jahr ein Diplom als Vollschwester. Außerdem arbeitete sie in Lazaretten in Wiesbaden, Dortmund und Berlin. Nach Kriegsende 1918 begann sie eine dreijährige Krankenpflegeausbildung im Krankenhaus der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt und erhielt 1921 ihr Diplom.

Nach dem Tod des Vaters Hermann Cahn 1929 richtete Hilda in der Hauptstraße 32 ein Erholungsheim für 25 Kinder ein, in dem auch Frankfurter Kinder den Sommer verbrachten. Manche Kinder blieben sogar zwei oder drei Jahre bei Fräulein Cahn. Das Heim erfreute sich eines guten Rufs, beschäftigte Hausangestellte und zwei Kinderpflegerinnen. Nach Angaben von Hilda Cahn entwickelte sich das Kinderheim gut, bis in der Nazi-Zeit die Schwierigkeiten immer größer wurden: „Belästigung der Kinder, Abwanderung und beständiger Druck von Seiten des Kreisarztes“. 1937 gab sie es auf. Anfang 1938 wurde das Haus Hauptstraße 32 verkauft. Albert und Hilda Cahn zogen am 1. Mai 1938 zu ihrem Onkel Maier Cahn und dessen Tochter Martha in die Hauptstraße 24.

Maier Cahn war mit Emilie, geb. Bauer (1856-1910, beerdigt auf dem Jüdischen Friedhof Falkenstein) verheiratet. Das Paar hatte drei Kinder: Sally, geb. 1882, der 1907 nach New York auswanderte, Ludwig, geb. 1893, der 1921 amerikanischer Staatsbürger wurde und Martha, geboren am 29. Mai 1894.

Martha, die ledig blieb, war Sekretärin. Gemeinsam mit ihrer Cousine Hilda plante sie die Auswanderung. Beide Frauen stellten am 23. Mai 1939 jeweils einen Antrag auf Mitnahme von Umzugsgut. Das Umzugsverzeichnis von Hilda listet Arbeitskleidung, Decken, Kinderbettbezüge, Essservice, Küchengeschirr, Spritzen, Fachliteratur und Kinderbücher auf. Im Umzugsverzeichnis von Martha finden sich sehr viele Bücher: Goethe, Hebbel, Ibsen, Platon, Hermann Hesse. Martha Cahn war offensichtlich eine belesene Frau. Bei der Devisenstelle in der Goethestraße in Frankfurt baten die Cousinen darum, „die Umzugslisten zusammen bearbeiten und genehmigen zu wollen, da die Nachschau, sowie die Verpackung und Verladung gemeinsam vorgenommen werden soll, weil wir gemeinsam Haushalt führen und das Umzugsgut in dem gleichen Hause Königstein im Taunus, Adolf Hitlerstr. 24, lagert und wir außerdem beabsichtigen, auch nach unserer Auswanderung in USA gemeinsam eine Existenz zu gründen. Die notwendigen Unbedenklichkeitsbescheinigungen, Vermögensverzeichnisse mit Sichtvermerk sind bereits vorhanden.“

Am 25. Februar 1940 meldete sich Martha Cahn nach New York ab. Die gemeinsame Auswanderung mit ihrer Cousine hatte offensichtlich nicht geklappt, denn Hildas Abmeldedatum nach New York war der 16. September 1939. Über das weitere Schicksal von Martha Cahn ist noch nichts bekannt.

Hilda Cahn wanderte über Antwerpen in die USA aus. Für die Schiffskarte zahlte sie 365 RM und ca. 50 RM für Bahnfahrkarte und Gepäck. Das Schiff der Holland-Amerika-Linie verließ Amsterdam erst mit zweiwöchiger Verspätung. Dadurch brauchte Hilda Cahn weitere 300 Dollar für den Aufenthalt in Antwerpen, da ihre Schifffahrkarte ungültig wurde und sie eine neue benötigte. Auch der Transport der Dinge, die sie mitnahm, kostete 800 RM in Deutschland und 200 Dollar in New York.

In New York arbeitete Hilda Cahn wieder als Krankenschwester. Sie starb 1974.

Von 1937 bis 1939 lebte auch die Haushälterin Irma Mendel in der Hauptstraße 24. Wahrscheinlich war sie zur Betreuung des nun hochbetagten Maier Cahn engagiert worden. 1939 zog Irma Mendel nach Mainz, 1942 wurde sie ins Ghetto nach Piaski in Polen deportiert.

Maier Cahn war von 1903 bis 1921 Kultusvorsteher der jüdischen Gemeinde in Königstein. Beruflich arbeitete er als Kaufmann. Er besaß Aktien und Grundstücke in Königstein, Schneidhain, Eschborn, Seckbach und Eppenhain. Ab Dezember 1938 konnte er gemäß der „Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens“ nicht mehr frei über seinen Besitz verfügen.

Im Februar 1939 erhielt er von der Zollfahndungsstelle Frankfurt a.M. ein Schreiben, in dem ihm ein monatlicher Betrag von 400 RM freigegeben wurde, über den er ohne besondere Genehmigung verfügen konnte. Er erhielt aber die Auflage, alle aus Grundstücksverkäufen, etc. anfallenden Vermögenswerte auf ein gesichertes Bankkonto zu überweisen.

Im November 1939 zog Maier Cahn im Alter von 88 Jahren nach Frankfurt. Vermutlich war das Haus Kronberger Str. 19, in dem er wohnte, in jüdischem Besitz, denn nach den Novemberpogromen mussten nichtjüdische Hausbesitzer mit Sanktionen rechnen, wenn sie an Juden vermieteten. Zwischen 1939 und 1945 gab es schätzungsweise bis zu 300 sogenannte „Juden- oder Ghettohäuser“ in Frankfurt, Häuser, in denen ausschließlich oder überwiegend jüdische Bewohner lebten.

Für Maier Cahn, der sein ganzes Leben in Königstein im eigenen Besitz gewohnt hatte, und nun 88-jährig sein Haus verließ, muss dies ein großer Bruch gewesen sein. Ohne die Judenverfolgung der Nazis hätte er bis zu seinem Tode zuhause leben können. So aber wurde das Haus Hauptstraße 24 im Frühjahr 1940, nach der Emigration seiner Tochter Martha, verkauft.

Laut Mitteilung seiner Schwester Elise Heymann im März 1941 starb Maier Cahn am 2. Oktober 1940 im Alter von 89 Jahren in Frankfurt.

Am 1. Mai 1940 meldete sich Albert Cahn in die Neugasse 1 um, am 1. Juni 1942 zog er in die Kirchstr. 12 zu Louise und Gertrude Gemmer. Wie auch in anderen Orten mussten die noch verbliebenen jüdischen Bewohner Königsteins immer enger zusammenrücken.

Wie viele andere hatte sich Albert Cahn um eine Auswanderung bemüht. In einem Schreiben an die Königsteiner Ortspolizeibehörde teilte er am 24. Mai 1940 mit, diese sei jedoch bisher an seiner Kriegsbeschädigung gescheitert. Albert Cahn wurde am 28. August 1942 zusammen mit Familie Heß, Clementine Mayer, Louise und Gertrude Gemmer aus Königstein abgeholt, um am 1. September von Frankfurt nach Theresienstadt deportiert zu werden. Am 23. Januar 1943 kam er nach Auschwitz. Dort verliert sich seine Spur.

 

Text: Petra Geis

Bernhard und Ludwig Cahn

Hauptstraße 38

Bernhard (geb. 8.6.1869) und Ludwig (geb. 20.9.1871) waren die Söhne von Seligmann Feist Cahn (1829-1898) und dessen Frau Jettele. Beide wurden in Königstein geboren. Die Familie lebte in der Hauptstraße 38. Die Brüder blieben ledig und waren Kaufleute.

Sie hatten eine Schwester Fanny (1863-1931) und noch zwei ältere Brüder: Ferdinand (1857-1915) war mit Caroline Weiß (1861-1900) aus Mainz verheiratet. Joseph (1862-1920) heiratete Lina Rosswald und hatte mit ihr die Töchter Flora und Rosa. Flora Cahn wird in einer Sicherungsanordnung vom 4. November 1940 als Nacherbin von Bernhard Cahn genannt. Als einzigem Mitglied dieser Familie gelang Flora Cahn 1939 die Flucht nach England.

Am 9. März 1939 zog Bernhard Cahn zusammen mit seinem Bruder Ludwig nach Frankfurt in die Niedenau 25 in ein sogenanntes jüdisches Altersheim. Für die beiden damals 69 und 67 Jahre alten Brüder muss dies ein sehr schwerer Umzug gewesen sein, denn sie hatten ihr ganzes Leben lang in der Königsteiner Hauptstraße gewohnt. Für Bernhard Cahn ist belegt, dass er in der Niedenau 25 ein Pflegegeld von 90 RM im Monat zahlen musste. Sein Bruder Ludwig unterschrieb für ihn die Angaben zur Sicherungsanordnung vom 15. Oktober 1940, denn Bernhard war zu diesem Zeitpunkt blind.

Bernhard und Ludwig Cahn wurden am 18. August 1942 zusammen mit etwa 1000 anderen Menschen von Frankfurt nach Theresienstadt deportiert. Dort starb am 23. Oktober Ludwig Cahn und am 17. November 1942 Bernhard Cahn.

Für Bernhard und Ludwig Cahn wurden noch keine Stolpersteine verlegt.

Text: Petra Geis

Lina, Flora und Rosa Cahn

Thewaltstraße 11

Lina Cahn, geb. Rosswald, wurde am 17. Dezember 1870 in Eschborn geboren. Sie heiratete den Königsteiner Joseph Cahn (1862-1920), der aus einer schon sehr lange in der Hauptstraße 38 ansässigen Familie stammte.

Lina und Joseph Cahn hatten zwei Töchter: Die am 13. Juli 1898 geborene Flora und die am 1. Juni 1901 geborene Rosa. Beide kamen in Königstein zur Welt und gingen auf das St. Anna-Lyceum, die heutige Ursulinenschule. 1920 starb der Vater Joseph Cahn.

In den 30er-Jahren nahm Lina Cahn in ihrer Wohnung in der Thewaltstraße bis 1935 auch Kurgäste auf, die sie nach den rituellen Vorschriften betreute. Davor hatte sie in der Herzog-Adolph-Straße 5 gelebt und vorübergehend Waschpulver, Seife und Ähnliches verkauft. Möglicherweise im selben Geschäft verkaufte ihre Tochter Rosa von 1924 bis 1927 Wäsche. 1928 und 1930 arbeitete Rosa Cahn mit einem Aushilfsvertrag als Kontoristin bei der Stadtkasse Königstein. Hier kam es zu einem Arbeitsgerichtsprozess, der mit einem Vergleich endete.

Flora Cahn hatte nach der Schulzeit Schreibmaschine und Stenographie gelernt und danach verschiedene kaufmännische Stellungen inne. Vom 18. März 1929 bis zum 8. Mai 1933 arbeitete sie beim Arbeitsamt in Frankfurt und verdiente dort monatlich 135 RM. Schon kurz nach der Machtergreifung Ende Januar 1933 hatten die Nationalsozialisten am 7. April 1933 das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Es diente dazu, jüdische und politisch missliebige Beamte aus dem Staatsdienst zu entfernen. Nach diesem Gesetz wurde Flora Cahn allein wegen ihrer jüdischen Herkunft entlassen und war danach arbeitslos.

Im August 1933 ging sie nach Frankreich. Sie arbeitete dort gelegentlich als Hausangestellte, hatte jedoch keine Arbeitserlaubnis. Deshalb wurde sie im Frühjahr 1935 ausgewiesen und lebte wieder in Königstein bei ihrer Mutter. Teilweise bezog sie Arbeitslosenunterstützung, teilweise arbeitete sie in einem Haushalt. Bis 1939 lebte und arbeitete sie an verschiedenen Orten: Braunschweig, Bamberg, Frankfurt, Bad Nauheim, Gelsenkirchen, Berlin und auch Königstein. Von Juli 1938 bis August 1939 arbeitete sie unentgeltlich bei der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, kurz unterbrochen von einer fünfwöchigen Anstellung in Berlin. Als sie im August 1939 auswanderte, bekam sie „ein Abschiedsgeschenk von einigen hundert Reichsmark und die Gemeinde bezahlte meine Fahrtkosten nach England“, wie Flora Cahn nach dem Ende der Nazi-Herrschaft berichtete.

In England wurde sie zunächst vom Jüdischen Komitee unterhalten. Dann arbeitete Flora Cahn einige Monate als Hausangestellte, ab Frühjahr 1940 als Kellnerin. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs wanderte sie in die USA aus. Dort kam sie am 7. April 1947 an und arbeitete dann als Kellnerin und Verkäuferin. Am 26. November 1954 stellte sie einen Antrag auf Entschädigung, den sie mit Florence Cornell unterzeichnete.

Warum Lina und Rosa Cahn nicht emigrierten ist unklar. Der Kurbetrieb für Juden wurde nach 1933 immer schwieriger und kam in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zum Erliegen. Lina Cahn durfte keine Kurgäste mehr aufnehmen. Wahrscheinlich wurde deshalb die finanzielle Situation von Mutter und Tochter immer schwieriger. Im März 1938 zogen Mutter und Tochter nach Frankfurt in die Hans-Handwerk-Str. 63 (= Lange Straße). Rosa Cahn arbeitete als Hausangestellte im Westend, Lina wurde zur Fürsorgeempfängerin. Sie wohnten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung und vermieteten eines der Zimmer unter.

Aufgrund der Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom Dezember 1938, die Juden zwang, ihren Grundbesitz und ihre Betriebe zu verkaufen, mussten auch Lina Cahn und ihre Töchter im Oktober 1939 eine ihnen gehörende Wiesen- und Ackerfläche in einer Größe von 31 ar in Schneidhain veräußern. Der Kaufvertrag musste genehmigt werden. Die Verkäuferinnen durften nicht über den Erlös verfügen, sondern dieser musste auf ein Sperrkonto eingezahlt werden.

Lina Cahn schrieb daraufhin an die Devisenstelle in der Goethestr. 9 in Frankfurt, dass sie keinerlei Vermögen besitze und der Kaufpreis nur zur Hälfte ihr gehöre. Die andere Hälfte gehöre ihrer Tochter Rosa, Flora hatte ihren Anteil an ihre Schwester abgetreten. Sie bat darum, für die geringe Summe von 165 RM nicht extra ein Konto einrichten zu müssen. Schließlich wurde Lina Cahn davon befreit, ein Sicherungskonto zu führen.

Gemeinsam mit ihrer 40 Jahre alten Tochter Rosa wurde die 70-jährige Lina Cahn am 22. November 1941 von Frankfurt nach Kowno in Litauen deportiert. Dort wurden die beiden Frauen drei Tage später am 25. November 1941 erschossen.

Text: Petra Geis

Rosa Cahn

Klosterstraße 2

Rosa Cahn, eine gebürtige Rosenthal, wurde am 13. November 1860 in Bergen, dem heutigen Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim, geboren. Sie war mit Ferdinand Cahn II (geb. 23.10.1859 in Königstein) verheiratet. Die beiden zogen 1899 von der Langgasse (heute Hauptstraße) in ihr neu erbautes Haus an der Ecke Kirchstraße/Klosterstraße. Ferdinand Cahn war Metzger. 1905 meldete das Ehepaar den Ausschank von Bier und Wein als Gewerbe an. So entstand neben der Metzgerei ein Gastbetrieb.

Bei den Feierlichkeiten zur Eröffnung der Synagoge am 13.9.1906 richtete Ferdinand Cahn das Festbankett im Hotel Procasky aus. Am 1.3.1920 ging das Hotel/Restaurant auf den Mitarbeiter Adolf Heß über. Rosas Mann Ferdinand starb an Weihnachten 1921 im Alter von 62 Jahren. Rosa blieb weiterhin im Haus wohnen. Die Restkaufpreishypothek war auf ihren Namen eingetragen. Im Grundbuch war ihr schriftlich ein Wohnungsrecht zugesichert.

Anfang 1939 wurden Haus und Gelände schließlich verfolgungsbedingt verkauft. Rosa Cahn lebte von einem monatlichen Freibetrag von 200 RM.

Laut Abmachung im Kaufvertrag sollten Rosa Cahn sowie Familie Heß spätestens zum 1.10.1939 das Haus verlassen. Am 2.10.1939 verließ Rosa Cahn aus diesem Grund Königstein und ging nach Frankfurt in das Rothschild’sche Altersheim auf der Zeil 92. Ab September 1941 lebte sie im Jüdischen Altersheim, Rechneigrabenstraße 18-20. Von dort wurde sie am 18. August 1942 81-jährig nach Theresienstadt deportiert. Sie starb dort am 7. Februar 1943. Bereits im September 1942 wurde ihr Vermögen zu Gunsten des Reiches eingezogen.

Text: Barbara Kramer

Sally Cahn

Neugasse 1

Sally Cahn wurde am 21.9.1894 in Königstein geboren. Er war Kaufmann und betrieb einen Vieh- und Pferdehandel im Elternhaus, den er von seinen Eltern übernommen hatte.

1932 heiratete er Anna Margarethe Koch, das Paar hatte eine im selben Jahr geborene Tochter Wilma. Anna Margarethe Koch war evangelisch. Auch die gemeinsame Tochter wurde 1938 auf Antrag der Mutter evangelisch getauft, möglicherweise um dem Kind kurz vor der Einschulung durch die Taufe Schutz zu geben.

Sally Cahns Eltern Bernhard und Bertha Cahn, geb. Stern, sind auf dem Falkensteiner Friedhof beerdigt. Er hatte eine zwei Jahre jüngere Schwester Selma.

Vermutlich stand er auch in einer Beziehung zu Rosa Cahn, geb. Rosenthal und deren Ehemann, dem Metzgermeister Ferdinand Cahn II in Königstein, denn in einem Dokument wird Sally Cahn als „Miterbe hinter den Eheleuten“ bezeichnet.

Bereits 1934 konnte Sally Cahn sein Geschäft als selbständiger Viehhändler nicht mehr betreiben. Der Lebensunterhalt der Familie wurde daher im Wesentlichen durch seine Ehefrau bestritten, die bei der Familie von Goldschmidt-Rothschild und im Sanatorium Kohnstamm arbeitete. Danach wurde Anna Margarethe Cahn von der Stadt Königstein verpflichtet, neu erbaute Häuser der Stadt und die Oberrealschule zu reinigen.

Am 9. November 1938 abends um halb sieben erbrachen laut Schilderung von Sally Cahns Ehefrau Anna Margarethe SA-Männer mit einem Stemmeisen die Haustür. Im Erdgeschoss demolierten sie die Türen und die Möbel der jüdischen Familie Steinberg. Danach kamen sie in den ersten Stock. Alles was ihnen in den Weg kam, warfen sie um. Als sie eine Lampe aus dem Fenster warfen, wies Sally Cahn darauf hin, dass alles Eigentum seiner Frau sei. Ein SA-Mann erwiderte daraufhin: „Hier haben wir die Sauerei.“ Ein anderer schlug auf Sally Cahn ein. Später kam ein Polizist, besah sich den Schaden und ging wieder.

Am Tag danach wurde Sally Cahn zusammen mit anderen Königsteiner Männern verhaftet und nach Buchenwald gebracht. Auf der Fahrt dorthin wurde er mit einem Gewehrkolben ins Gesicht geschlagen. Beim Ausladen in Buchenwald verletzte er sich am Fuß, ein jüdischer Arzt und Mitgefangener kümmerte sich notdürftig um diese Verletzung. 48 Stunden mussten die Männer stehen, bevor sie in Baracken untergebracht wurden. Die Gefangenen bekamen zwei Wochen nichts zu trinken, sie tranken Regenwasser aus den Dachtraufen.

Zunächst musste Sally Cahn in Buchenwald nicht arbeiten. Dann wurde er in einem Steinbruch eingesetzt, Steine zu einer Chaussee zu bringen, die neu gebaut wurde. Die körperlich schwere Arbeit war er nicht gewohnt.

Seine Frau und seine Schwester in Bielefeld besorgten ihm schließlich Schiffspapiere, so dass Sally Cahn am 12.4.1939 aus dem KZ entlassen wurde und im Mai über Triest nach Shanghai auswanderte.

Gesundheitlich war er nicht mehr in der Lage zu arbeiten. In Shanghai wurden die Emigranten von amerikanisch-jüdischen Komitees unterstützt. Sie lebten in verschiedenen Camps, immer mit vielen Personen in einem Raum. Schließlich wurde der Wohnbezirk mit Stacheldraht umzäunt und durfte nur zum Arbeiten verlassen werden.

1943 wurde Sally Cahns Ehe in Abwesenheit geschieden. Auch seine Frau und seine Tochter waren in der NS-Zeit erheblichen Anfeindungen, Schikanen, Kontrollen sowie wirtschaftlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Anna Margarethe Cahn konnte das Haus in der Neugasse 1 nicht auf sich überschreiben lassen. Das Mobiliar musste sie zu Schleuderpreisen verkaufen. Die Räumung der Wohnung wurde erzwungen und sie wurde in eine Notwohnung eingewiesen. Der Tochter wurde eine halbe Stunde vor Schulbeginn im April 1939 die Einschulung verweigert. Erst Anfang 1940 konnte sie ins Philantropin nach Frankfurt zur Schule gehen und musste deshalb bei einer Pflegefamilie leben. 1942 wurde dann zwar der Besuch der Königsteiner Volksschule genehmigt, da die Kosten für die Pflegefamilie zu teuer wurden. Als „Mischling“ durfte Wilma später jedoch nicht auf die Oberschule gehen.

Im August 1947 kam Sally Cahn zunächst nach Königstein zurück, zog dann aber nach Frankfurt, da die Ehe nicht mehr zu retten war.

Sally Cahn kehrte als kranker Mann nach Deutschland zurück, diverse ärztliche Atteste geben Zeugnis davon. 1957 starb er in Königstein in der Klinik Amelung. Seine letzten zehn Lebensjahre in Deutschland waren durch Krankheit und Auseinandersetzungen mit den Behörden um Entschädigungen geprägt.

Text: Petra Geis

Dr. Max und Bertha Friedemann

Altkönigstraße 14

Max Friedemann wurde am 10. April 1881 in Berlin geboren. Nach dem Medizinstudium in Göttingen war er 1905 als Schiffsarzt auf einer Passage nach New York tätig.

Wann die Zusammenarbeit mit dem Königsteiner Sanatoriumsleiter Dr. Oskar Kohnstamm (1871-1917) begann, ist nicht bekannt. Zumindest zeitweise arbeitete Dr. Friedemann bereits vor dem ersten Weltkrieg als zweiter Arzt im Sanatorium Dr. Kohnstamm. Im Jahr 1914 wurde eine gemeinschaftliche Veröffentlichung mit Dr. Kohnstamm unter dem Titel: „Zur Pathogenese und Psychotherapie bei Basedowscher Krankheit“ publiziert, die auch in den Sammelband „Erscheinungsformen der Seele“ 1927 aufgenommen wurde.

1921 meldete sich Max Friedemann, in Königstein bekannt als „langjähriger Mitarbeiter“ Kohnstamms, erneut in Königstein an und wohnte in der Altkönigstraße 14. Zusammen mit Dr. Bernard Spinak war er bis zur Zwangsschließung im Sanatorium Dr. Kohnstamm als Leitender Arzt tätig.

1934 heiratete Dr. Max Friedemann Bertha (genannt Berthel) Loeb in Mainz. Bertha Loeb wurde am 7. November 1904 in Mainz geboren und besuchte dort die Höhere Mädchenschule (heute Frauenlob-Gymnasium) bis zum Abitur. Später absolvierte sie eine Ausbildung an der Gartenbauschule in Bad Godesberg. Im Alter von sieben Jahren verlor sie ihren Vater. Dies belastete sie stark, so dass sie als Patientin in das Sanatorium Dr. Kohnstamm kam und hier Dr. Friedemann kennenlernte.

Nach der Schließung des Sanatoriums im Oktober 1938 – als jüdischer Arzt hatte Dr. Friedemann bereits kurz zuvor seine Zulassung als Arzt verloren – floh das Ehepaar 1939 über England nach New York. Die für die Tätigkeit als Arzt erforderlichen medizinischen Examen legte Dr. Friedemann in nur drei Monaten ab. Mit einigen Mitarbeitern des früheren Sanatoriums Dr. Kohnstamm arbeitete er zunächst in einer Klinik in der Nähe von New York. Später praktizierte er als Psychiater in New York.

1968 starb Bertha Friedemann im Alter von 63 Jahren. Dr. Max Friedemann, der in seiner Freizeit Geige in einem Ärztequartett sowie Klavier spielte, war bis kurz vor seinem Tod im Alter von 96 Jahren im Jahr 1978 noch beruflich aktiv.

Text: Habbo Lolling

Familie Gemmer

Kirchstraße 12

Louise Gemmer, geboren am 18.6.1869, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Königstein. Sie vermittelte Grundstücksgeschäfte und war unter anderem für die Familie Rothschild aktiv. 1903 heiratete sie den Bankbeamten Philipp
Wilhelm Gemmer, der mit der Heirat zum Judentum übertrat. Ein Jahr später wurde die Tochter Gertrude geboren. Die Familie lebte in der Kirchstraße 12.

In der Naziterminologie galten Wilhelm Gemmer und seine Tochter Gertrude als „Geltungsjuden“. Seine christliche Herkunft schützte ihn nicht vor den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten. Am 11. November 1938, an diesem Tag wurden zahlreiche jüdische Männer verhaftet, war Wilhelm Gemmer nicht zu Hause, stellte sich jedoch einen Tag später der Polizei. Zusammen mit den anderen Männern wurde er als sogenannter „Aktionsjude“ über die Frankfurter Festhalle in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht, wo er mit der Häftlings-Nummer 29321 geführt wurde. Dort war Wilhelm Gemmer bis zum 15. Dezember 1938 inhaftiert und wurde mit der Auflage entlassen, das Land innerhalb kürzester Zeit zu verlassen.

Es gelang Wilhelm Gemmer mithilfe der Quäker am 25.6.1939 nach London zu fliehen. Die Quäker, auch „Gesellschaft der Freunde“ genannt, sind für ihr soziales und karitatives Engagement bekannt. Neben einem Büro in Frankfurt führten sie von 1933 bis 1939 in Falkenstein im Hotel „Frankfurter Hof“ ein Erholungsheim für Menschen, die aus Konzentrationslagern entlassen worden waren. Dort sollten diese wieder neue Kräfte sammeln. Der bekannteste unter ihnen war der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter. Außerdem unterstützten die Quäker vor allem Christen jüdischer Herkunft und sogenannte „Mischlinge“ bei der Flucht ins Ausland. Sie organisierten auch Kindertransporte aus Deutschland und richteten in Nachbarländern Kinderheime ein.

In dem Glauben, nur den Männern drohe Gefahr, ging er zunächst ohne die Familie ins Ausland und wollte sie später nachholen. Dies belegt sein Umzugsgutverzeichnis, in dem er auch Gegenstände auflistet, die Frau und Tochter betrafen. Sein Umzugsgut enthielt unter anderem auch zwei Bilder der Villa Rothschild sowie sein Ehrenkreuz für die Kriegsteilnahme im Ersten Weltkrieg.

Der Kriegsbeginn im September 1939 verhinderte die erhoffte Auswanderung der beiden Frauen aus Deutschland. Wilhelm Gemmer gelang es nicht mehr, Frau und Tochter nachzuholen. Louise Gemmer und die Tochter Gertrude wurden am 1.9.1942 nach Theresienstadt deportiert. Gertrude Gemmer starb dort am 11.9.1942, ihre Tochter Gertrude wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Das gesamte in Königstein verbliebene Eigentum von Gertrude und Louise Gemmer wurde vom „Reich eingezogen“ bzw. versteigert. Zahlreiche weitere in Königstein geborene Mitglieder der Familie Henlein wurden von Frankfurt aus deportiert und ermordet. Einige der Namen sind an der Gedenkwand am Frankfurter Börneplatz zu finden.

Wilhelm Gemmer lebte vom 26. Juni 1939 bis 18. Dezember 1947 in Cheltenham in England in ärmlichen Verhältnissen und schlug sich als Schuhputzer und Hotelpage durch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entschloss er sich 1947/48 zur Rückkehr nach Königstein. Zermürbende Entschädigungsverhandlungen erwarteten Wilhelm Gemmer.

Bei seiner Rückkehr nach Königstein war sein Haus in der Kirchstraße von einem Königsteiner bewohnt, der zu den führenden Nazis der Stadt gehört hatte. Nach dessen Auszug konnte Gemmer wieder in seinem Haus wohnen. Im Jahr 1952 zog die heutige Hauseigentümerin Elisabeth Kurz als junge Frau gemeinsam mit ihrer Mutter in zwei Zimmer des Hauses Kirchstraße 12 ein. Die Mutter führte für Wilhelm Gemmer den Haushalt. Zehn Jahre später verkaufte er das Haus an die Familie von Elisabeth Kurz und lebte hier weiter bis zu seinem Tod im Jahr 1971. Für ihre beiden Kinder war Wilhelm Gemmer ein geliebter „Adoptiv-Opa“. Gemmer wurde auf dem jüdischen Friedhof in Falkenstein beigesetzt, es war die letzte jüdische Beerdigung dort. Sein Grabstein erinnert auch an die Ermordung von Frau und Tochter.

Zeitlebens hat Wilhelm Gemmer seiner ermordeten Angehörigen gedacht. In Bücher, die er verschenkte, stempelte er einen Gedenktext an Frau und Tochter, der mit den Worten „Zum treuen Gedenken an meine liebe Frau“ begann. Dieser Text war eigentlich der erste Stolperstein, ein „Stolperstein auf Papier“, ist Elisabeth Kurz überzeugt.

Text: Angelika Rieber

Bertha Henlein

Falkensteiner Straße 2

Bertha Henlein wurde am 28. Juli 1881 in Königstein geboren. Sie war die Tochter von Hermann Henlein. Die Familie Henlein war bereits lange in Königstein ansässig. Allerdings zogen viele Familienmitglieder Anfang des 20. Jahrhunderts nach Frankfurt.

1908 wohnte die ledige Bertha bei ihrem Bruder Mayer (geb. 14. April 1876) und dessen Frau Johanna (geb. 23. April 1871), geb. Lippmann, in der Hauptstraße 3. Mayer Henlein II war Metzger. Zusammen mit seiner Frau zog er 1909 nach Herne. Bertha Henlein hatte noch zwei Schwestern Babette und Julchen.

Später wohnhaft in der Wiesbadener Straße bei der Familie Steinberg, lebte Bertha Henlein, laut Meldekarte „ohne Beruf“, in den 1930er Jahren in der Falkensteiner Str. 2. Von dort meldete sie sich am 28.3.1939 nach Frankfurt in die Parkstraße 9 ab. Wie auch andere jüdische Einwohner Königsteins zog sie in die nahe gelegene Großstadt. Welchem Beruf Bertha Henlein nachging, ist nicht bekannt. 1941 ist einer Sicherungsanordnung zu entnehmen, dass sie als Wohlfahrtsempfängerin von der jüdischen Gemeinde monatlich 48 RM erhielt.

Am 11./12.11.1941 wurde Bertha Henlein von Frankfurt ins Ghetto Minsk deportiert. Dort kam sie mit über tausend Leidensgenossen am 17. November an.

Das Ghetto Minsk war ein abgeriegelter Stadtbezirk in der weißrussischen Hauptstadt, in dem ab Juli 1941 die etwa 60.000 jüdischen Einwohner von Minsk und ab November 1941 auch deportierte Juden aus dem Deutschen Reich gefangen gehalten wurden. Deportationszüge im November 1941 kamen aus Hamburg, Düsseldorf, Berlin, Brünn, Bremen und Wien. Innerhalb von 20 Tagen wurden 7000 Menschen zusätzlich in das etwa zwei Quadratkilometer große Ghetto gebracht. Die Ernährung bestand für registrierte Bewohner aus 200 Gramm Brot pro Tag, Arbeiter bekamen in einigen Fabriken mittags eine dicke Suppe.

Etwa 1.400 der im November 1941 nach Minsk deportierten Juden mussten Zwangsarbeit leisten. Die Bewohner organisierten Widerstand gegen die Besatzer und stellten Verbindung zu den Partisanen in den Wäldern rund um Minsk her. Es erfolgten mehrfach „Aktionen“, bei denen viele tausend Bewohner ermordet wurden. Bis Oktober 1943 blieben nur etwa 2000 Gefangene übrig, die bei der Auflösung des Ghettos am 21. Oktober 1943 abtransportiert und ermordet wurden. Von den tschechischen, österreichischen und deutschen Juden, die im November 1941 ins Ghetto Minsk deportiert worden waren, überlebten nur fünf Personen.

Wie und wann Bertha Henlein starb, ist nicht bekannt.

Text: Petra Geis

Familie Heß

Klosterstraße 2

Adolf Heß, geb. 3.1.1889, stammte aus Bergen, dem heutigen Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim. Seine Frau wurde am 13. Januar 1893 als Berta Mayer in Cönen, heute einem Ortsteil von Konz bei Trier, geboren. Am 4. April 1909 kam Berta, möglicherweise als Hausmädchen, nach Königstein.

Berta und Adolf Heß hatten zusammen drei Kinder: die beiden Töchter Liesel Henriette und Ilse und den Sohn Werner Bernhard. Beide Mädchen starben früh. Liesel wurde nur fünf Jahre alt und starb im Jahr 1926. Ilse folgte ihr im Alter von elf Jahren, am 45. Geburtstag ihres Vaters, im Jahr 1934. Die Ursache des frühen Todes beider Mädchen ist unbekannt. Die beiden Kinder sind auf dem jüdischen Friedhof in Königstein-Falkenstein beigesetzt.

Der Sohn Werner Bernhard (Bernhard wie sein Großvater väterlicherseits) kam am 16.11.1935 zur Welt. Werner wäre im Jahre 1942 eingeschult worden. Da bereits im Jahr 1939 jüdischen Kindern der Schulbesuch verwehrt wurde, darf davon ausgegangen werden, dass Werner im Frühjahr nicht wie seine Altersgenossen eingeschult wurde. Von Werner findet sich in den Akten des Königsteiner Stadtarchivs am 10.6.1942 die Erstellung einer Kennkarte. Nach den abgefragten Kennzeichen war er von Gestalt schwächlich, sein Gesicht länglichrund, seine Augen braun und sein Haar hellblond.

Adolf Heß war als Metzger in der Metzgerei und dem Hotel- und Restaurantbetrieb des Ferdinand Cahn II angestellt. Zusammen mit seiner Frau Berta übernahm er am 1.3.1920 den Betrieb des Hauses. Im Sinne seines Vorgängers führte Adolf Hess das Haus rituell, d.h. dass das Hotel koscheres Essen anbot.

Der Umfang des Betriebes erforderte die Mithilfe von Angestellten. In der Metzgerei waren teils bis zu drei Bedienstete beschäftigt. Die Mitarbeiter im Hause Cahn waren teils jüdischen Glaubens, zum Teil auch Nichtjuden. Die jüdischen Männer mussten den Hausherrn im rituellen Schlachten und in der Einhaltung der Schabbatregeln unterstützen. Die nichtjüdischen Angestellten sollten selbständig die anfallenden Arbeiten an den jüdischen Feiertagen und an Schabbat ausführen können, da es den gläubigen Juden zu diesen Gelegenheiten verboten ist bestimmte Verrichtungen auszuführen. Im Hof des Hotels Cahn wurde am Laubhüttenfest eine beheizbare Sukka (Laubhütte) für die Gäste aufgebaut und entsprechende Verpflegung angeboten. Im Sommer fand allabendlich in den Räumen des Hotels ein Gottesdienst statt. In der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 19.6.30 heißt es: „Im Hotel Cahn wird eine gerade ideale Verpflegung und aufmerksame Bedienung geboten“.

Im Zimmerverzeichnis von 1935 sind für das Hotel Cahn 6 Betten mit einfachem Komfort (fließend Wasser) angeboten. Schon bald nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde es sowohl für die jüdischen Kurgäste, als auch die jüdischen Gewerbetreibenden unangenehm. 1935 fühlten sich die ersten Hotelbetreiber in Königstein bemüßigt ihr Haus als judenfrei anzupreisen. Am 22.4.1937 wurde amtlicherseits nach den Bettenzahlen der jüdisch geführten Häuser gefragt (Hotel Cahn mit 4 Betten).

Adolf Heß war Soldat im 1.Weltkrieg, aus dem er schwer kriegsbeschädigt zurückkehrte. Auf seiner Passagiergutliste für die geplante Emigration findet man seinen Eintrag über die Schuhe, die er wegen der Kriegsverletzungen vom Versorgungsamt gestellt bekam und auch die Angabe eines Stockes. Daraus lässt sich schließen, dass er eine schwere Fußverletzung von dieser Zeit erlitten hat.

Adolf Heß wurde im Januar 1930 zum Magistratsschöffen gewählt. Der Bürgermeister schrieb über ihn: „Heß erfreut sich besten Rufes“. Ende 1930 übernahm er den Kultusvorstand für den Synagogenbezirk Königstein-Falkenstein-Kronberg.S eit dem Ende der 20er Jahre gab es eine „Königsteiner Notgemeinschaft“, die sich die Hilfe Bedürftiger vor Ort zum Ziel gesetzt hatte. Dort wirkte auch Adolf Heß als Kultusvorsteher mit. Bei Machtübernahme der Nationalsozialisten mussten alle jüdischen Mitglieder ihre Ämter abgeben.

Dann kam der 10. November 1938. Metzgerei und Restaurant wurden am Morgen geschlossen, und der weitere Fleisch- und Wurstverkauf wurde untersagt. Bewirtung und Beherbergung wurden ebenfalls ab sofort verboten. Am Nachmittag dieses Tages wurde das Hotel Cahn, wie andere Häuser auch, Ziel der Zerstörung. Die Randalierer warfen Steine in die Fenster, zerschlugen im Inneren Bilder und rissen die Latten vom Hofzaun. Das Haus der jüdischen Kultusgemeinde im Ölmühlweg 19, das auf Grund seiner Tätigkeit als Kultusvorsteher auf den Namen Adolf Heß eingetragen war, wurde demoliert. Die Einrichtungsgegenstände waren durch schwere Hammerschläge zum Großteil völlig zertrümmert. Die Familie des Rabbiners war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause.

Die Synagoge im Seilerbahnweg war am frühen Abend das Ziel der Ausschreitungen. Die Kirchenbänke wurden zerschlagen, Bänke, Tische und Vorhänge wurden auf die Straße geworfen. Steine flogen in die Fenster. Im Innern wurde ein Treppengeländer abgerissen, eine Säule umgelegt. Die Kirchenbänke lagen auf einem Haufen und brannten. Das Feuer war wohl zusätzlich mit Petroleum und Stroh angefacht worden. Noch vor Mitternacht stürzte das Kuppeldach ein. Die Synagoge war zerstört. Nur wegen eines angrenzenden und durch das Feuer bedrohten Wohnhauses wurde die Umgebung gegen das Feuer abgeschirmt.

Am darauf folgenden Morgen wurden die jüdischen Männer Königsteins inhaftiert und vorübergehend nach Buchenwald verschleppt. Adolf Heß und Albert Cahn, wurden wegen ihrer Schwerbehinderung davon ausgenommen.

1938 wurde das Hotel, wie alle jüdischen Gewerbebetriebe amtlicherseits geschlossen. Am 16. Oktober findet sich der letzte Eintrag über zwei Gäste. Am 18.1.1939 verkaufte Adolf Heß verfolgungsbedingt seine Liegenschaft. Adolf Heß und seine Familie durften laut Vereinbarung im Kaufvertrag bis zu einer geplanten Auswanderung, längstens bis zum 1.10.1939, im Haus wohnen bleiben. Von nun an lebte die Familie von der Rente Adolfs und einer finanziellen Unterstützung durch die Jüdische Wohlfahrtspflege.

Adolf Heß beschloss mit seiner Frau und dem kleinen Werner auszuwandern. Im April 1939 lagen den amtlichen Stellen Ausreisegesuche mit Passagiergutlisten vor. Die Mitnahme wurde für den Zeitraum von drei Monaten genehmigt. Weshalb es zu keiner Ausreise kam ist ungeklärt. Am 8.9.1939 zog die Mutter von Bta Heß, Clementine Mayer, zur Familie. Ob es durch ihren Zuzug zur Verschiebung des Plans kam? Möglicherweise waren aber auch fehlende Geldmittel die Ursache.Es gab einen erneuten Antrag auf Ausreise in die USA vom April 1940. Auch hier wurden die Passagiergutlisten bis auf einige Ausnahmen genehmigt. 1941 wurde das Verfahren amtlicherseits eingestellt, weil seit 1940 keine Ablieferung der Gegenstände aus den Listen erfolgte. Es lagen außerdem sowohl von der Stadt Königstein, als auch vom Finanzamt Unbedenklichkeitsbescheinigungen vor, die die Ausreise ermöglicht hätten.

Adolf Hess, seine Familie und seine Schwiegermutter lebten in der Klosterstraße bis zu ihrem Abtransport am 28.8.1942. Am 31.8.42 findet sich in der Taunus-Zeitung ein kleiner Artikel mit der Überschrift: „Königstein jetzt judenfrei“ und konstatiert, die letzten ansässigen Juden hätten die Stadt dieser Tage „verlassen“. Am Tag darauf, dem 1.9.1942, wurden sie von Frankfurt ins Ghetto Theresienstadt transportiert.

1946 gab Johanna Klemm, die als Königsteinerin mit jüdischen Wurzeln ebenfalls nach Theresienstadt kam, gegenüber dem Bürgermeister der Stadt Königstein einen Bericht ab. Darin erwähnt sie ein Zusammentreffen mit Adolf Heß im Ghetto.

Am 9.10.1944 schließlich wurden Berta, Adolf und der kleine Werner ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Berta muss noch im Verlauf des Transports am 9. Oktober 1944 umgekommen sein. Das Todesdatum von Adolf und Werner Heß in Auschwitz ist nicht bekannt.

Text: Barbara Kramer